Fünfzehn Jahre nach Merkels Staatsräson-Rede ist das Entsetzen im politischen Deutschland groß, dass Pro-Palästina-Demonstrationen in den Städten, auch wenn sie verboten werden, nicht mehr kontrolliert oder kaum noch von der Polizei eingedämmt werden können. Die Kritik der jüdischen Organisationen, dass die persönliche Sicherheit ihrer Mitglieder und die der Synagogen auf dem Spiel stehen, trifft uns ins Mark, auch weil uns jetzt bewusst wird, dass die unkontrollierte Migration dieses Ausmaß der Demonstrationen erst ermöglicht hat. In einem der im Internet kursierenden Videos war ein Schild zu sehen: „Free Palestine from German guilt“. Das trifft einen wichtigen Punkt in unserem Selbstverständnis und für die Einordnung dessen, was sich da gerade in Deutschland, in Europa und auch in den USA verändert.
Für uns ist Antisemitismus inakzeptabel, für die große Mehrheit der ebenfalls semitischen Araber und der Muslime weltweit ist er dagegen irgendetwas zwischen selbstverständlich und am extremen Rand sogar religiöse Pflicht. Wobei allerdings zu unterscheiden ist, ob es sich um rassistischen Antisemitismus als Judenhass handelt oder ob die Empörung mehr auf einer Solidarität mit den Palästinensern und Kritik an ihrer Unterdrückung durch die zionistischen Elemente in den israelischen Regierungen beruht. Letzteres scheint inzwischen weltweit in den Medien und besonders in den sozialen Medien vorzuherrschen. Dabei kann man vermutlich unterstellen, dass die Informationen über die prekären Lebensumstände der Palästinenser in Gaza und die Einengung ihrer Wohngebiete im Westjordanland durch den ständigen Ausbau der israelischen Siedlungen und Militärstützpunkte in der arabisch-muslimischen Welt intensiver kommuniziert werden als in Deutschland.
Die Vereinigten Staaten und Israel
Die Solidarität mit Israel hat dagegen in den USA eine Reihe anderer Grundlagen. Ein wichtiges Element ist der große jüdische Bevölkerungsanteil von rund sechs Millionen amerikanischen Juden gegenüber sieben Millionen jüdischen Israelis. Obwohl es unter den amerikanischen Juden deutlich weniger Orthodoxe gibt, mehr liberale Reformströmungen und weniger Beachtung der religiösen Traditionen und Gebote, ist das Gefühl einer schicksalhaften Verbundenheit groß. Daraus ergibt sich eine erhebliche Spendenbereitschaft zur Unterstützung Israels.
Nach Angaben karitativer Organisationen in Israel liegt das jährliche Spendenaufkommen aus der gesamten Diaspora bei zwei Milliarden US-Dollar, die Hälfte davon aus den USA.
Das politische Gewicht der jüdischen Amerikaner und ihr Einfluss auf die Wahlen haben Solidarität mit und politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung für Israel nach der Staatsgründung 1948 und in den vielen Krisen mit den arabischen Nachbarn erheblich verstärkt. Der gerade verstorbene Henry Kissinger war einer der prominentesten und einflussreichsten politischen und diplomatischen Unterstützer. Die USA wenden pro Jahr drei Milliarden Dollar für die militärische Rüstung Israels auf.
Die sehr offene Praxis der Wahlkampfspenden durch Political Action Committees (PACs) erleichtert die Lobbyarbeit im Kongress und im Senat erheblich. Der Washington Report on Middle East Affairs listet die Spenden der Pro-Israel PACs für alle Abgeordneten mit Namen, Bundesstaat und Betrag detailliert auf. Für die Jahre 2021 und 2022 kamen bei Kongressabgeordneten 8.603.247 Dollar zusammen und bei Senatoren 3.542.984. Auf der gleichen Webseite findet sich auch ein Artikel aus dem Jahr 2003, der die gesamte finanzielle Bürde des amerikanischen Steuerzahlers für den Nahostkonflikt auf enorme drei Billionen Dollar hochrechnet, weit mehr als für den Vietnamkrieg.
Die amerikanischen Evangelikalen und Israel
Aber Amerikaner mit jüdischen Wurzeln sind nicht die einzige Gruppierung, die sich um Israel Sorgen macht und erhebliche Geldmittel bereitstellt. Seit Jahrzehnten sind es die evangelikalen christlichen Gemeinden, was nicht immer so war. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren die USA ein betont christliches, ganz überwiegend protestantisches Land, das die historischen Vorurteile gegen das Judentum von Europa übernommen hatte. Der Judaismus hatte Jesus nicht als den Messias anerkannt und daraus folgte politisch, dass sogar nach der sogenannten Reichskristallnacht 1938 vielen jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich die Aufnahme verweigert wurde.
Die amerikanischen Evangelikalen sind bis heute nicht unbedingt die besten Freunde Israels, aber das Gelobte Land spielt in ihrem Glauben an das Jüngste Gericht und die davor prophezeite kriegerische Endzeit des Armageddon eine zentrale Rolle. Für die Wiederkehr Christi müssen Juden im Heiligen Land leben, deshalb wird auch viel Geld für die Siedlungen im Westjordanland gespendet.
Wikipedia zitiert eine Studie von 2010, nach der 40 Prozent der Amerikaner an die Wiederkehr Christi bis spätestens 2050 glauben, unter den Evangelikalen mit 58 Prozent noch deutlich mehr. Dieser Glaube an die Wiederkehr breitete sich in den USA gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus und war auch die Grundlage für den christlichen Fundamentalismus der 1920er Jahre. In Deutschland ist dagegen die Entchristianisierung so weit fortgeschritten, dass sich auch kirchentreue Gläubige solche Endzeit-Szenarien kaum vorstellen können.
Um den Unterschied besser zu verstehen, muss man einmal in amerikanischen Gottesdiensten verschiedener Denominationen die inbrünstige Gläubigkeit und das Gemeinschaftsgefühl in den Gemeinden miterlebt haben. Dann überrascht den deutschen Beobachter auch nicht ein Artikel des US-Magazins The Nation vom 2. November 2023. Durchaus kritisch beleuchtet der Beitrag die Verbindungen zwischen einem der einflussreichsten religiösen Wortführer, dem texanischen Evangelisten John Hagee und dem israelischen Ministerpräsidenten Benyamin Netanyahu. Hagee ist der Gründer der nach eigenen Angaben zehn Millionen Mitglieder starken Pro-Israel Gruppe „Christians United for Israel“ (CUFI), die nur Stunden nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober auf X einen Aufruf zur Unterstützung Israels postete. In einer anschließenden Predigt in seiner Kirche in San Antonio verlangte Hagee von den USA die Vernichtung des Iran, weil dieser gegen Israel agiere und weil die Existenz Israels unabdingbare Voraussetzung für die Endzeit-Prophezeiungen der Bibel, Armageddon, das Jüngste Gericht und die Wiederkehr Christi sei. Popularisiert wurde der Endzeitglaube seit 1970 auch durch den Bestseller „The Late Great Planet Earth“ von Hal Lindsay, der eine ganze Literaturgattung begründete.
Für den Politiker Netanyahu spielen die alttestamentarischen Prophezeiungen vermutlich keine Rolle, wohl aber der Einfluss der evangelikalen Partner im Kongress und Senat in Washington.
Der Wahlsieg von Donald Trump 2016 hatte die Evangelikalen noch einmal ein entscheidendes Stück näher an die Republikanische Partei herangerückt und trug zu mehr als symbolischen politischen Entscheidungen bei. Darunter waren die Verlegung der US- Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem und die Abraham-Abkommen von 2020, für die Trump seinen jüdischen Schwiegersohn Jared Kushner als Berater einsetzte.
Die israelischen Erwartungen und Hoffnungen könnten durch langfristige Entwicklungen unter den Evangelikalen allerdings gedämpft und in Zukunft weniger verlässlich werden. Eine von der University of North Carolina in Pembroke in Auftrag gegebene Umfrage hat festgestellt, dass der Anteil von Unterstützern Israels unter den jüngeren Evangelikalen zwischen 2018 und 2021 von 75 auf 34 Prozent gefallen ist. Die New York Times bestätigte am 5. Dezember 2023, dass dieser neue Generationenkonflikt bis in jüdische Familien in den USA und in Israel reicht. Aber so schnell wird das die politische Situation nicht verändern. Der erst kürzlich neu ins Amt gewählte Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, ist ein tiefreligiöser Republikaner und hat vor kurzem in einem Vortrag vor der „Republican Jewish Coalition“ in Las Vegas seine Ablehnung des Waffenstillstands in Gaza damit begründet, dass Gott die Nationen segnen wird, die Israel segnen, und dass, wer Israel verflucht, selbst vom Fluch getroffen wird. So steht es im Ersten Buch Moses, 12,3 und 27,29 und einer Reihe weiterer Bibelstellen.
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